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Thüringen fehlt das Herz. Offener Brief des Bürgermeisters an Minister Tiefensee

Bad Liebensteins Bürgermeister plädiert in einem offenen Brief an Minister Tiefensee für die Neubelebung des Grünen Herzen als Thüringenmarke.

In einem offenen Brief an den Thüringer Tourismusminister Wolfgang Tiefensee kritisiert der Bad Liebensteiner Bürgermeister Dr. Michael Brodführer (CDU) die mangelhafte Umsetzung der Thüringer Tourismus-Strategie 2025. Bis heute sei es dem Freistaat nicht gelungen, sie auf den regionalen und kommunalen Ebenen hinreichend zu verankern. Der vorzeitige Weggang des Geschäftsführers der TTG, Dr. Hofmann, stehe nur symbolisch für den Zustand des Thüringer Tourismus: Es mangele Kontinuität auf inhaltlicher, personeller und organisatorischer Ebene. Die 2017 verabschiedete Tourismusstrategie entfalte bis heute nicht die nötige Breitenwirkung. Themenjahre und besondere Ereignisse wie die Bundesgartenschau blieben ohne touristischen Nachhall:

„Es fehlt ein stringentes Narrativ, das unser Bundesland, unsere Sehenswürdigkeiten und unseren Erlebnis- und Erholungswert im nationalen Vergleich herausragen lässt“,

heißt es in dem Schreiben an Tiefensee. Nicht die Akzeptanz für den Tourismus oder die aktuelle Strategie sei das Problem, sondern die unzureichende landesweite Vermittlung und Verankerung.

Brodführer führt dies nicht nur auf organisatorische und kommunikative Defizite zurück. Es fehle eine verbindende und aktivierende Erzählung von Thüringen. Diese sieht Brodführer in der Darstellung Thüringens als das „Grüne Herz Deutschlands“:

„Das Grüne Herz hat auf emotionaler Ebene nach innen und nach außen großes Aktivierungspotential. Es ist ein Fehler, darauf zu verzichten. Das Grüne Herz steht emotional nicht nur für die klassischen touristischen Themen Natur und Kultur, sondern weist darüber hinaus auch auf nachhaltiges Wirtschaften, Zukunftstechnologien und Wissenschaft, Kulinarik und die Lebens- und Alltagswelten der Thüringer hin.“

Daher plädiert Brodführer, sich mit der Thematik aktiv auseinanderzusetzen und fordert die Landesregierung dazu auf, sich für die Neubelebung des „Grünen Herzens“ als Landes- und Tourismusmarke einzusetzen.

ein Scan des Original-Briefes mit Unterschrift

Offener Brief als PDF-Ansicht

Wortlaut des Offenen Briefes:

Sehr geehrter Herr Minister Tiefensee,

als Bürgermeister der Stadt Bad Liebenstein und als Mitglied des Beratungskreises zur Umsetzung der Tourismusstrategie Thüringen 2025 erlaube ich mir, Ihnen meine Sichtweise auf den aktuellen Zustand des Thüringen-Tourismus mitzuteilen.

„Thüringen wird Tourismusland“: Dieses Ziel hatte die Landesregierung 2017 mit Inkrafttreten der neuen Thüringer Tourismusstrategie ausgerufen. Von dieser Zielsetzung sind wir nach über fünf Jahren Umsetzungsphase sehr weit entfernt. Zweifellos hat die Corona-Pandemie zu großen Verwerfungen in der Tourismuswirtschaft geführt. Umsatzrückgänge, Liquiditätsengpässe, Nachfolgeproblematiken und Personalflucht stellen die großen Herausforderungen der Zeit dar. Allerdings gilt dieser Umstand für alle Tourismusregionen in Deutschland und Europa. Dass Thüringen im nationalen Vergleich der Bundesländer touristisch weiterhin irgendwo im unteren Mittelfeld rangiert und keine Besserung in Sicht ist, liegt im Wesentlichen auch an hausgemachten Defiziten im Thüringer Tourismus.

Strategie ohne Breitenwirkung
Zunächst möchte ich festhalten, dass die Tourismusstrategie Thüringen 2025 mit ihrer Ausrichtung auf Produktmarken und die untersetzten Reisemotive, auf Qualität und Professionalisierung auf allen Ebenen und einer klaren Zielgruppenfestlegung den Tourismus in die richtige Richtung weist. Doch nicht nur aus der im Herbst 2021 vorgelegten Zwischenevaluation („Standortbestimmung“), auch aus Gesprächen mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Thüringer Tourismus GmbH (TTG) und der Regionalverbände sowie mit Bürgermeistern und anderen kommunalen Akteuren nehme ich vor allem eine Botschaft mit: Thüringen hat es in den vergangenen Jahren nicht geschafft, seine Tourismus-Strategie in der Breite, in den Regionen, den Kommunen und bei touristischen Leistungsträgern ausreichend zu vermitteln. Hinzu kommen fehlende Abstimmungen regionaler Strategien oder das leise Verschwinden von Projekten wie „Zukunft Thüringer Wald“, bevor deren Vorhaben überhaupt vollständig umgesetzt wurden beziehungsweise ausreichend Wirkung entfalten konnten.

Auf der kommunalen Ebene werden in Stadt- und Gemeinderäten Strategie- und Investitionsentscheidungen getroffen, die überwiegend losgelöst von der Landesstrategie erfolgen. Im Gegenteil, die Landestourismusstrategie ist bei vielen kommunalen Entscheidungsträgern überhaupt nicht bekannt beziehungsweise bewusst. Bis heute ist es dem Freistaat nicht gelungen, die Thüringer Tourismusstrategie auf den regionalen und kommunalen Ebenen hinreichend zu verankern. Dass die Menschen vor Ort die Strategie nicht wahrnehmen, liegt im Wesentlichen an der wenig emotionalen Ansprache. „Das ist Thüringen“ im Landesmarketing und „Thüringen entdecken“ im Tourismusmarketing lauten die offiziellen Slogans, mit denen der Freistaat nach wie vor recht unemotional für sich wirbt. Sie sind beliebig und austauschbar. Dass die damit verbundenen Kampagnen bei den verschiedenen Zielgruppen die gewünschte Wirkung entfalten, erkenne ich nicht. Nach innen haben sie jedenfalls keinen Effekt. Das habe ich landesweit aus Gesprächen mit zahlreichen Beteiligten im Tourismus, in der Politik und Wirtschaft und mit Bürgerinnen und Bürgern wahrgenommen. Was allen aktuell in Thüringen fehlt: eine emotionale Verbindung, ein Anker, ein gemeinsames Element der Identifikation, das sowohl nach innen als auch nach außen wirkt und das Potenzial hat, aktuelle und zukünftige Herausforderungen stark mitzutragen. Aus meiner Sicht würde die Wiederverwendung der nach wie vor weit verbreiteten und sehr wirksamen Darstellung Thüringens als das „Grüne Herz Deutschlands“ hier einen entscheidenden Beitrag leisten können. Es würde helfen, bei der Umsetzung der Tourismusstrategie einen großen Schritt voranzukommen, weil das „Grüne Herz“ nach innen auf emotionaler Ebene ein großes Aktivierungspotential für die Beteiligten hat. Es ist ein Fehler, darauf zu verzichten. Das Grüne Herz steht emotional nicht nur für die klassischen touristischen Themen Natur und Kultur, sondern weist darüber hinaus auch auf nachhaltiges Wirtschaften, Zukunftstechnologien und Wissenschaft, Kulinarik und die Lebens- und Alltagswelten der Thüringer hin. Daher plädiere ich dringend für eine Wiedereinführung und bitte die Landesregierung, diesbezüglich aktiv zu werden.

Fehlendes Controlling
Um den Erfolg der Strategie sowie der daraus abgeleiteten Maßnahmen nachvollziehen zu können, bedarf es einer regelmäßigen und transparenten Darstellung und Kommunikation prüfbarer Controlling-Kennziffern. Sie geben den Beteiligten des Tourismus Aufschluss über die Tätigkeiten und Effekte der Arbeit der TTG und der Destinationen, machen die Ergebnisse sichtbar und erhöhen die Akzeptanz. Diese Art von Strategie-Controlling fehlt oder wird nicht kommuniziert. Diesbezüglich darf ich darauf hinweisen, dass der 2018 einberufene Beratungskreis zur Umsetzung der Thüringer Tourismusstrategie zuletzt vor zwei Jahren und auch davor nur sporadisch getagt hat. Seine ihm angedachte Aufgabe erfüllt der Beratungskreis nicht.

Fehlende Ansprechpartner, Kommunikation und Infrastruktur
Die fehlende Kontinuität in der Zusammenarbeit zwischen lokalen und regionalen Touristikern mit der Landestouristik ergibt sich auch aus der großen Fluktuation beim Fachpersonal der TTG. Stellen werden nicht adäquat nachbesetzt, wie zum Beispiel in der Betreuung des Thüringer Tourismusnetzwerkes, das sich als gut genutztes Vernetzungsinstrument der Touristiker etabliert hat und sehr geschätzt wird. Notwendige Ansprechpartner fehlen dann einfach. Es fehlen auch Überarbeitungen wichtiger technischer Infrastrukturen. So besteht beim TOMAS-Buchungssystem dringend Aktualisierungsbedarf. Während Sachsen, Bayern und Berlin mit effizienteren Versionen arbeiten, fehlt es in Thüringen an zuverlässigen Aussagen zu einer Weiterentwicklung oder gegebenenfalls einer Loslösung von dieser Aufgabe. Warum die TTG keinen Beitrag zur zukunftsfähigen digitalen Weiterentwicklung der „Thüringer-Wald-Card“ leistet, muss auch kritisch hinterfragt werden.

An guten Ansätzen mangelt es indes nicht: ThüCAT, die zentrale touristische Datenbank, ist ein wirkmächtiges Instrument. Doch es gelingt Thüringen nicht, dieses Instrument schnell genug und effizient einzusetzen. Wichtige Weiterentwicklungen werden offensichtlich nicht verfolgt, wie zum Beispiel der Aufbau einer zentralen Veranstaltungsdatenbank. Auch weitere Mittel, wie das Netzwerk zur Unterstützung kleiner und mittelständischer Unternehmen im Tourismus oder die Erlebniswerkstatt zur Produktentwicklung, sind wertvolle und hilfreiche Angebote, die jedoch zu wenig bekannt gemacht werden.

Fehlende Nachhaltigkeit und kein gemeinsames Ziel
Es ist dem Thüringen-Marketing in den vergangenen Jahren nicht gelungen, etwas Dauerhaftes zu schaffen, das nach außen und innen die nötige Zugkraft entfaltet, um den Tourismus in Thüringen auf eine qualitativ hohe und ausreichend breite Grundlage zu stellen. Es fehlt ein stringentes Narrativ, das unser Bundesland, unsere Sehenswürdigkeiten und unseren Erlebnis- und Erholungswert im nationalen Vergleich herausragen lässt. Selbst die Chance einer Bundesgartenschau, die Touristen an sehenswerte Orte auch jenseits der Stadt Erfurt und der Städtekette gelockt hatte, konnte Thüringen nicht nachhaltig nutzen. Es reicht nicht, im Jahr eines nationalen Großereignisses auf überdurchschnittliche Besucherzahlen zu verweisen, wenn es keine Ideen und Maßnahmen gibt, wie angestoßene Projekte, Themen und Investitionen landesweit nachhaltig touristisch genutzt und weiterentwickelt werden können. Dieses Phänomen gibt es nicht erst seit der BUGA, es verhält sich bei allen bisherigen sogenannten Themenjahren so: Ein paar Monate lang erfolgt eine intensive Produktentwicklung und breite Vermarktung. Und wenn die Maßnahmen begonnen haben, ihre Wirkung zu entfalten, wird bereits das nächste Thema gespielt und das alte Thema abgehackt. All diesen jährlichen Kampagnen fehlt es neben der Nachhaltigkeit an einem verbindenden Element, einer gemeinsamen Quelle, aus der sie sich speisen, einer gemeinsamen Erzählung, die Thüringen emotional nach außen und nach innen trägt.

Fehlende Kontinuität
Soll der Tourismus in Thüringen auf der Grundlage der Strategie bis 2025 spürbar an Fahrt aufnehmen, wird es unumgänglich sein, die Aufgaben und Strukturen der TTG auf den Prüfstand zu stellen.
Dazu gehört auch, wie in der Zwischenevaluierung gefordert, eine Verbesserung und Nachschärfung der Aufgabenteilung zwischen TTG, Destinationsmanagementorganisationen (DMO) und Kommunen sowie eine entsprechend fachkompetente und qualifizierte Ausstattung der Beteiligten. Nun hat Dr. Hofmann als Geschäftsführer der TTG angekündigt, sich vorzeitig von seinem Posten zurückzuziehen. Ohnehin ist die Fluktuation innerhalb der Mitarbeiterschaft der TTG spürbar hoch und steht symbolisch für das, was dem Thüringer Tourismus seit vielen Jahren fehlt: Kontinuität auf inhaltlicher, personeller und organisatorischer Ebene und das Bemühen um eine konsequente Umsetzung der Tourismusstrategie bis weit ins Land hinein.

Ich würde mir wünschen und trage zusammen mit zahlreichen Bürgermeisterkollegen gerne dazu bei, dass wir zukünftig verstärkt am Aufbau der Thüringer Tourismusstrukturen arbeiten und uns auf allen Ebenen kontinuierlich koordinieren. Das ist wichtig für den Freistaat und für die Motivation der Menschen, die sich täglich mit Leidenschaft für die touristische Entwicklung in ihren Städten, Dörfern und Regionen einsetzen.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Dr. Michael Brodführer
Bürgermeister

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